
Die_berühmteste, da oft gemalte, Szene, ist das schwülstig erotische Zentrum des Stücks: In einer Kiste hat sich Jachimo, der kleine Jago, verborgen. Nachdem Imogen eingeschlafen ist, entsteigt er der Kiste, betrachtet die unbekleidete Imogen und bemerkt
auf der linken Brust ein Mal, fünfsprenklig, wie die roten Tropfen in dem Schoß der Primel. Jachimo prägt sich die Charakteristika des Ortes ein, entwendet der Imogen das Armband, welches sie von Posthumus als Liebespfand erhalten hatte. Dann kehrt Jachimo in seine Kiste zurück, die am nächsten Tag von seinen Dienern abgeholt wird.
Spätestens jetzt ist es an der Zeit, sich Boccacios
Il Decamerone II.9 zu vergegenwärtigen, woraus Shakespeare diese Szene entlehnt hat. Am zweiten Tag unter der Regentschaft Filomenas, die das Thema „größte Gefahren, denen man unvermutet entgeht“ vorgibt und selbst folgende Geschichte erzählt:
Bernard von Genua verliert durch des Ambrosius Betrug sein Vermögen, und will sein Frau umbringen lassen. Sie entkommt, tritt in Mannskleidern in den Dienst des Sultans, entdeckt den Betrüger, läßt ihn in Alexandrien bestrafen und kommt in Frauenkleidung mit ihrem Manne reich wieder nach Genua. Soweit die vorangestellte Zusammenfassung. …
Der Kasten wurde nun wirklich ins Schlafzimmer gesetzt. In der Nacht, als Ambrosius die Frau im Schlafe glaubte, öffnete er ihn geschickt, ging leise in das durch Licht erleuchtete Zimmer und merkte sich die Lage desselben, die Gemälde und alle darin befindlichen Sonderbarkeiten. Darauf näherte er sich dem Bette und deckte die mit einem kleinen Mädchen fest schlafende Frau behutsam auf. Er fand sie nackend ebenso schön wie angezogen und wurde kein andres Kennzeichen, das er ihrem Manne hinterbringen könnte, gewahr, als ein unter der linken Brust mit goldenen Haaren umwachsenes Mal, worauf er sie still wieder zudeckte. Ungeachtet, daß der reizende Anblick ihn beinahe sein Leben aufs Spiel zu setzen und sich an ihre Seite zu legen verleitet hätte, so wagte er es wegen des Rufs ihrer Strenge und Unbeugsamkeit in diesem Punktee doch nicht, und kehrte, nachdem er eine Börse, ein Nachtgewand, einen Ring und einen Leibgürtel aus dem Schranke genommen hatte, in seinen Kasten zurück, den er wieder verschloß. Dies wiederholte er zwei Nächte, ohne von der Frau bemerkt zu werden.PS: Das obige Gemälde von
Wilhelm Ferdinand Souchon (*Halberstadt 1825, +1876)
Imogen aus dem Jahr 1872 illustriert die Shakespeare-Story.